Schnelle Erholung auf wackeligem Boden: Automobilindustrie muss vor allem bei der Lieferkette schnell anpassen
- Globaler Markt: Automobilbranche geht dank nie dagewesener Konjunkturprogramme und stärkerer Finanzzahlen besser aus der Krise hervor als erwartet
- Fahrzeugverkäufe wachsen im Jahresvergleich um 8% auf 83 Mio. und erreichen bis 2025 wieder Rekordzahl von 94 Mio.
- Umsatz und Rentabilität steigen 2021 auf Vorkrisenniveau
- ROCE der OEMs verzeichnet Anfang 2021 deutlichen Anstieg
- Europäischer Markt
- Staatliche Konjunkturprogramme zwanzigmal höher als 2009
- Rekordverkaufszahlen von 2019 werden mittelfristig nicht mehr erreicht
- Lieferketten-Problematik: Nach Investitionsstaus in neue Technologien und Covid-19-Krise die nächste große Herausforderung
- Lage spitzt sich durch höhere Rohstoffkosten pro Fahrzeug (+92%) und Chipmangel zu – Umbau im laufenden Betrieb nötig
- Europa verzehnfacht Batterieproduktion bis 2025 und OEMs produzieren wichtige Komponenten vermehrt in-House
- Trend zu OEM-Partnerschaften für stärkere Einkaufspower setzt sich fort
- Elektromobilität
- Anteil an Elektrofahrzeugen wächst global bis 2030 auf 23%
- Seit 2019 beinahe Verdreifachung des EV-Volumens in Europa
- Investitionen steigen weitaus stärker als erwartet (Weltweit: +41%; Europa: +52%)
- Gleichgewicht bei Verbrennern und Elektrofahrzeugen wird voraussichtlich 2018 erreicht
München (18. Juni 2021) – Nach dem Krisenjahr 2020 gehören die Auswirkungen der Covid-19-Krise nicht mehr zu den Hauptsorgen der Automobilindustrie. Allerdings hat das letzte Jahr die Problematik funktionierender Lieferketten als wunden Punkt der Branche für jeden sichtbar gemacht. Die größte Herausforderung ist daher, durch sinnvolle Investitionen die eigene Wertschöpfungskette zu stärken und für kommende Krisen zu wappnen.
Die Hersteller kommen zwar besser aus der Krise als vor einem Jahr erwartet, die regionalen Unterschiede sind jedoch groß. Weltweit werden 2021 etwa 83 Mio. Fahrzeuge verkauft (+8 % vs. 2020), der Rekordwert von 2019 (94 Mio.) wird voraussichtlich bis 2025 erreicht. Während China die Verkaufszahlen von 2019 bereits in diesem Jahr wieder überschreitet, wird in Europa das Vorkrisenniveau mittelfristig nicht erreicht.
Für notwendige Investitionen gibt es dagegen in Europa finanziellen Spielraum – dank höherer Liquidität, niedriger Nettoverschuldung sowie zum Teil höheren Umsätzen und Rentabilität als vor Covid-19. So sind die Cash-Reserven der OEMs und Zulieferer in Europa im Moment drei- bis viermal höher als noch 2008. Zudem half der Anstieg des durchschnittlichen Stückpreises um 2.000 USD (7%), den Volumenrückgang zu kompensieren. Auch der ROCE verzeichnet eine positive Tendenz. In Europa konnten OEMs und Zulieferer nach niedrigen Werten für 2020 (OEMs: + 4,2%; Zulieferer: + 4,3%) Anfang 2021 einen deutlichen Anstieg (OEMs: 9,6%; Zulieferer: 6,7%) in den Bilanzen vermerken.
Das sind einige zentrale Erkenntnisse aus dem „AlixPartners Global Automotive Outlook 2021“. Für die Studie hat die global agierende Beratung in den vergangenen Monaten Bilanzen von mehr als 300 Automobilherstellern und -zulieferern ausgewertet sowie eine Vielzahl von Experteninterviews und Verbraucherumfragen durchgeführt.
„Die positiven Entwicklungen verleiten nach einem Jahr voller Hektik dazu, sich im wirtschaftlichen Aufschwung nach der Krise einen Moment der Ruhe zu gönnen“, sagt Dr. Marcus Kleinfeld, Managing Director bei AlixPartners und Co-Autor der Studie. „Für OEMs kommt es darauf an, einen drohenden Lieferketten-Kollaps zu vermeiden. Dafür notwendig sind agile Maßnahmen während laufender Produktions- und Entwicklungsprozesse – gleichsam eine Operation am offenen Herzen.“
Staatliche Konjunkturprogramme um vielfaches größer als 2009
Die guten aktuellen Marktzahlen hat die Automobilindustrie vor allem in Europa den immensen staatlichen Konjunkturprogrammen der vergangenen Monate zu verdanken. Diese waren für die Branche global im Schnitt siebenmal höher als 2009 (insgesamt 13,7 Mill. USD). In Europa belief sich Höhe der finanziellen Hilfen insgesamt sogar fast auf das Zwanzigfache im Vergleich zur Finanzkrise (2020: 3,4 Mill. USD; 2009: 0,2 Mill. USD).
Lieferketten mit hoher Anfälligkeit
Die Lieferketten-Problematik als Hauptthema der Industrie kann auch der Wirtschaftsaufschwung der nächsten Monate nicht kaschieren. So verdoppelten sich die Rohstoffkosten pro Fahrzeug seit 2020 auf ein Rekordhoch von über 3.600 USD (+92%). Für das nächste Jahr wird eine leichte Entspannung erwartet, eine Rückkehr zum Vorkrisenniveau ist aber noch nicht in Sicht. Grund ist unter anderem die mangelnde Verfügbarkeit fast aller wichtigen Rohstoffe.
Allein die Chip-Knappheit wird in Europa zu einem Produktionsausfall von bis zu vier Mio. Fahrzeugen führen. Die Verkäufer kommen der steigenden Nachfrage nicht nur in der Automobilindustrie kaum nach. Aktuell werden Bestellungen von Ende 2020 erst im September diesen Jahres bedient. Dies führt vermehrt zu Schließungen und Produktionsstopps in Automobilfabriken weltweit. Mit einer Entspannung der Situation wird erst 2022 gerechnet.
„Die Automobilindustrie sieht sich mit einer Negativspirale konfrontiert, die es zu durchbrechen gilt. Einzelereignisse wie die Havarie der Evergreen oder der Brand in der japanischen Chipfabrik im März haben das Problem jedoch nicht verursacht, sondern nur weiter verstärkt“, erklärt Jens Haas, Managing Director bei AlixPartners. „In der Industrie 4.0 lösen Elektrochips nach und nach Öl als Motor fast jeder Wirtschaftsbranche ab – und ein Autobauer, der in den kommenden Jahren weniger Chips benötigt, ist längst nicht mehr denkbar.“
Elektroautos und Batterieproduktion auf dem Vormarsch – vor allem in Europa
In der Lieferkette der Autobauer besteht nicht nur aufgrund des Rohstoffmangels, sondern in erster Linie durch die Umstellung auf neue Technologien Anpassungsbedarf. Der E-Anteil am Gesamtmarkt wird bis 2030 global voraussichtlich 23% und in Europa sogar fast ein Drittel (32%) betragen. Allein in Europa hat sich der Verkauf von Elektrofahrzeugen seit 2019 fast verdreifacht. Auch die Regierungen unterstützen diese Umstellung flächendeckend. So verbieten 14 EU-Länder und China bis spätestens 2035 den Verkauf von Verbrennern. Zudem ergibt die AlixPartners Analyse, dass die Investitionen in Elektromobilität bis 2025 weitaus stärker steigen als noch im letzten Jahr erwartet (Weltweit: +41%; Europa: +52%)
Allerdings besteht weiterhin ein Kostennachteil von Elektroautos gegenüber den klassischen Verbrennern von bis zu 11.000 USD, der sich langsamer schließt als erwartet. „Wir rechnen erst ab 2028 mit einer Konvergenz bei den Kosten für Elektroautos und Verbrennern“ sagt Jens Haas. „Um die vollständige Elektrifizierung des Automarkts bis Anfang der 30er Jahre zu erreichen, müssen Regierungen, Hersteller und Zulieferer an weiteren Anreizen zum Kauf von Fahrzeugen mit alternativen Antrieben arbeiten. Denn weiterhin gilt, dass Verbraucher eher zu den in Anschaffung und im Unterhalt günstigeren Verbrennern tendieren.“
Ein wichtiger Teil der Lieferkette, der auch für die höheren Kosten bei Elektroautos verantwortlich ist, betrifft die Batterieproduktion. China gilt hier weiterhin als Vorreiter und wird bis 2025 seine Produktionskapazität auf 750 GWh ausbauen. Europa holt dagegen weiter auf und wird im selben Zeitraum seine Kapazitäten auf 369 GWh verzehnfachen. Bereits im nächsten Jahr werden dort genug Batterien für den eigenen Markt produziert. Die Hälfte (44%) der europäischen Produktion ist in Deutschland angesiedelt. Der weltweite Ausbau führt dazu, dass die Kosten pro Batteriepack bis 2016 auf 100 USD/kWh sinken werden – 2016 betrug der Preis noch 350 USD.
Vermehrt in-house-Produktion wichtiger Elektro-Komponenten
Die rückläufigen Volumina an Verbrennern erfordern bis 2027 die Umwandlung von mehr als 100 Werken weltweit, davon 40% der derzeitigen EMEA-Werke. Im Zuge der Entwicklung neuer Strukturen ist es für auf Verbrenner spezialisierte Zulieferer problematisch, dass OEMs mittlerweile Teile der Lieferkette selbst übernehmen und ihnen so Kompensationsmöglichkeiten nehmen. Bei EV-Antrieben beispielsweise wird weltweit bereits ein erheblicher Anteil der Wertschöpfung (60%) von den Herstellern selbst oder in Joint Ventures produziert. Besonders groß ist das Engagement der meisten OEMs in der Batterie-Wertschöpfungskette.
Der Trend zur Zusammenarbeit von OEMs setzt sich in diesem Jahr weiter fort. Die Anzahl an CASE-Partnerschaften stieg zum Beispiel um 27%. Im Bereich Elektrofahrzeuge beträgt das Wachstum bei den Kooperationen 38%. In naher Zukunft wird diese Entwicklung ebenso die wichtiger werdende Softwareentwicklung betreffen. So benötigen Fahrzeuge heute bis zu 200 Mio. Codezeilen, dreimal so viel wie noch 2005.
„Hersteller kämpfen derzeit damit, rechtzeitig bis zur Einführung autonomer Systeme nicht nur bei Komponenten, sondern auch bei der Entwicklung von Software genug Erfahrung zu sammeln“, so Jens Haas. „Der War of Talents für das Fahrzeug der Zukunft wird sich weiter verschärfen, da nicht mehr nur die großen Tech-Unternehmen wie Google oder Facebook auf Softwareentwickler angewiesen sind, sondern Autobauer mehr und mehr Ingenieure dieses Fachbereichs benötigen“.
Dr. Marcus Kleinfeld: „In den nächsten Monaten kommt es für Hersteller und Zulieferer darauf an, ihre Lieferkette resilienter zu gestalten. Dabei müssen eigene Produktions- und Lagerkapazitäten sowie die Auswahl von Partnern womöglich auf neue Füße gestellt werden – vor allem bei zukunftsträchtigen Technologien. Und es muss die richtige Mischung zwischen in-house-Produktion und zuverlässigen Zulieferern gefunden werden. Auf der Ebene der Batterieproduktion sehen wir bereits, dass OEMs diese wichtigen Teile am liebsten in eigener Hand behalten und in anderen Bereichen eher Partnerschaften als Zulieferer bevorzugen. Ziel muss es daher sein, den Aufschwung zu nutzen sowie notwendige Operationen im Geschäftsmodell schnell umzusetzen“.
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